TV-Kritik: Fernsehen – wo kann ich das wegklicken?

Die Alten erinnern sich: Es gab früher einmal Live-Sendungen auf einem Medium namens Fernsehen. Wie ist das, wenn man nach Jahren auf Netflix und YouTube dorthin zurückkehrt?

TV-Kritik: Fernsehen – wo kann ich das wegklicken?

Gestern Abend habe ich mir mal dieses „Fernsehen“ angeschaut. Also auf dem Laptop – einen Fernseher besitze ich seit Jahren nicht mehr. Ich hatte davon gehört, dass der TV-Sender ProSieben die TV-Sendung „TV Total“ wiederbelebt hätte, mit Sebastian Pufpaff als Moderator.

Pufpaff, da klingelte was. Das ist doch der, den ich aus der ZDF-Mediathek kenne, weil er dort als Dauergast in der „Anstalt“ zu sehen ist! TV Total hatte ich zuletzt in den Nullerjahren gesehen. Lustige Kombination! Das wollte ich mir ansehen – aber wie eigentlich?

Etwas wie die ZDF-Mediathek hat ProSieben nicht. Einen direkten Livestream fürs Netz, wie ihn ARD oder ZDF haben, auch nicht. Dann aber doch eine Art Hybrid aus beidem: Joyn, ProSiebens Live-TV-Serien-Service, auf dem natürlich auch ProSieben läuft.

Sebastian Pufpaff beerbt Stefan Raab bei „TV Total“.

Rechtzeitig um 20:12 schalte ich dort ein und lasse einen ganzen Reigen offenbar nicht personalisierter Werbesports über mich ergehen. Ein Servicedienst für Autoglas, obwohl ich gar kein Autoglas brauche, eine Fastfood-Kette, ein Knusperriegel-Spot mit Thomas Müller.

Pufpaff gleitet dann endlich unter tosendem Applaus die Rutschstange herunter. Das Studio ist tatsächlich mit geimpften oder genesenen Zuschauern gefüllt. Kannte man auch aus anderen Gründen so gar nicht mehr.

Werbung, die sich nicht wegklicken lässt

Aber klar, nun die Frage: Worüber wollen Pufpaff und „TV Total“ eigentlich berichten, wenn doch in diesem „Fernsehen“ gar nichts mehr läuft? Natürlich! Über die andere, kürzlich wiederbelebte Sendung „Wetten dass?“ Eine aus der Zeit gefallene Sendung berichtet über eine andere aus der Zeit gefallene Sendung. Ein nostalgisches Metaversum, wenn ihr so wollt, aber weniger auf die coole 80er-Jahre-Retro-Art wie in „Stranger Things“.

Nach 20 Minuten dann etwas, von dem ich schon beinahe vergessen hatte, dass es das mal gab: eine Werbeunterbrechung, die sich nicht nach fünf Sekunden wegklicken lässt. Beinahe 10 Minuten lang laufen weitere, nicht personalisierte Spots. Ein nordeuropäischer Möbelhersteller, obwohl ich gerade gar keine Möbel brauche, eine Jobbörse, wieder die Fastfood-Kette, wieder Thomas Müller und der Knusperriegel, Alkohol.

Als nächstes schlägt der junge Live-Sender „Bild TV“ nach dem Skandal um Ex-Chefredakteur Julian Reichelt hart auf dem Boden der TV-Total-Tatsachen auf. Tatsächlich! Hier füllt die Sendung als einzige die Lücke, die das Ende der Show 2015 selbst geöffnet hatte. Niemand im YouTube- und Facebook-Universum hätte sich getraut, das heiße Eisen „Bild“ anzufassen. Aber eine TV-Sendung, in der man Hass-Kommentare nicht sehen kann? Problemlos!

Alles im TV verulkt? Dann jetzt Podcasts!

Nach 35 Minuten scheint dann alles mit Fernsehbezug aber auch durchgenudelt, Pufpaff sieht das Publikum davondriften. Die Rettung? Ein digitales Medium verulken: Podcasts! Lanz & Precht bekommen ihr Fett weg, TV-Total weiß selbstverliebte Zitate der beiden Talkshowgrößen mit Bildern aus ihren eigenen Sendungen zu verheiraten. Eine der zwei Minuten, die die Einspieler dauern, ist das sogar beinahe komisch.

ZDF-Podcast Lanz & Precht: Wenn im TV alles verulkt ist, muss das Internet her

Wenn gerade nicht der Showmaster oder ein Einspieler zu sehen sind, blendet ProSieben die Reaktionen des Publikums ein. Auch das scheint man früher einmal so gemacht zu haben. Eine Kamera ohne Ringlicht auf sich gerichtet, wirkt der eine oder andere Hobby-YouTuber im Publikum aber unschlüssig, was nun von ihm erwartet wird. Die meisten ringen sich zu einem Anstandslachen durch.

Noch einmal ein Werbeblock, diesmal nur acht Minuten lang. Ein Mobilfunktarif (obwohl ich gerade gar keinen brauche), eine Tiefkühlpizza, noch einmal die Fastfood-Kette, noch einmal Thomas‘ Knusperriegel.

Fremdscham: Da ist dieses Gefühl wieder!

Und kurz vor dem Ende der Sendung noch ein Außenvideo. Als konditionierter Zuschauer an der Kreuzung zwischen früher (Live-TV) und heute (YouTube) weiß ich: das kann so lang nicht werden, und: das wird jetzt irgendwie auf lustig getrimmt sein.

Das Video zeigt, wie Pufpaff versucht, bei „Wetten dass“ am Samstag zuvor auf die Couch zu kommen. Ohne Einladung, ohne Akkreditierung, aber mit einer fingierten „Wetten dass“-Jacke an und einem ZDF-Mikrofon in der Hand. Das Sicherheitspersonal ist aber leider nicht genauso aus den Nullerjahren, sagt nein und wird mit laufender Sendedauer zunehmend ungehaltener. Pufpaff wird rausgeschmissen, aber um nicht einfach aufzugeben, versucht er es noch einmal als Helene Fischer verkleidet. Das Sicherheitspersonal steht kurz davor, handgreiflich zu werden. Und da ist es wieder, dieses Gefühl des Fremdschämens, das man noch aus diversen ProSieben-Sendungen der Nullerjahre kannte.

Nach etwas über einer Stunde ist die Show vorbei. Und jetzt? Warten, bis die nächste Folge automatisch startet? Na gut. Aber nein, da kommt eine ganz andere Sendung: Zervakis & Opdenhövel live. Und die beginnt mit einem Bericht – über TV Total. Okay, nein, doch, verwirrend, irgendwie auch genug jetzt. Zurück in die heile On-Demand-Welt!

Es ist anstrengender als Netflix und YouTube, dieses Live-TV, ich bin es nicht mehr gewohnt. Es erinnert an 2010, als noch stundenlang „Big Bang Theory“ im Fernsehen lief und man den Stream nicht anhalten konnte. Und es kommt darin so vieles, was ich eigentlich gar nicht sehen möchte. Wie hat man damals eigentlich ganze Nächte seines kümmerlichen Lebens damit verbracht? Und warum wirken kümmerlich verbrachte Nächte auf Netflix oder Disney Plus heute stilvoller?

Eine Freundin, der ich auf Telegram von meiner Zeitreise erzähle, klingt verblüfft: „Pufpaff? TV Total? Wo erfährst du überhaupt von sowas?“

„Das ist eine verdammt gute Frage“, schreibe ich zurück. „Aus dem Fernsehen jedenfalls nicht.“

Bilder: Eigene Screenshots/ProSieben/ZDF

Neue Beiträge abonnieren!

Täglich frisch um 17 Uhr im Postfach

Themenauswahl

Änderungen jederzeit über die Abo-Verwaltung möglich – weitere Themen verfügbar

Jetzt kommentieren!

4 Kommentare zu “TV-Kritik: Fernsehen – wo kann ich das wegklicken?

  1. Seh ich nicht so. Nicht alles auf YT, Netflix und Co. ist gut und stilvoll.
    Streaming kann eins nicht, was Live TV kann, Menschen reden am nächsten Tag darüber, was sie gestern gesehen haben. Das geht leider komplett verloren und das ist schade.

    Werbung brauch ich auch nicht.

    1. Sehe ich gar nicht so kritisch wie du. Menschen reden vielleicht nicht mehr am nächsten Tag über den Tatort – wobei das immer noch viele tun und sicher auch nicht weniger täten, wenn man ihn sich zwei Stunden später in der Mediathek ansieht. Ich rede sehr viel mit anderen über Squid Game, Podcast-Folgen, die mich beeindruckt haben oder damals in der Finalstaffel Game of Thrones, als man doch irgendwie Woche für Woche jede neue Folge schnellstmöglich gesehen hat, um nicht gespoilert zu werden. Die ganz große Zeit von Live-Shows im TV ist vorbei, aber es gibt auch hier immer wieder Ereignisse, die sich Millionen anschauen, nur nicht zwingend zu genau der Zeit, in der es live ausgestrahlt wird, oder auf dem Live-TV als Medium. Also mir scheint es so, als es gibt es diese Kaffeepause-Gespräche über gute Sendungen nach wie vor. Sie haben sich nur verlagert.

Schreibe einen Kommentar

*
*
Bitte nimm Kenntnis von unseren Datenschutzhinweisen.