TRENDBLOG

Wozu eigentlich noch Facebook?

Jahre nach dem Start ist Facebook zu einem effekthascherischen und doch eintönigen Marktplatz verkommen, dem einst begeisterte Nutzer frustriert den Rücken kehren. Es ist Zeit, über einen Neuanfang von Social Media nachzudenken, findet Trendblog-Redaktionsleiter Jürgen Vielmeier.

Nein, das hier ist keiner dieser „Ich verlasse Facebook jetzt für immer“-Beiträge. Es geht mir nicht darum, dass Leute dort Halbwahrheiten, Fake News oder schlicht Meinungen kundtun, die mir nicht gefallen. Oder dass Facebook seinen Nutzern mal wieder neue AGB unterschiebt, die nicht in Ordnung sind. Ist nicht cool, aber wahr ist auch: Man hat sich längst daran gewöhnt. Kein Grund mehr, deswegen alle Brücken abzubrechen, lieber die Kirche im Dorf lassen.

Nur noch News von Leuten, die mich nicht interessieren

Es sind andere Dinge, die mich an Facebook stören. Ich rufe die Seite auf und es sind immer dieselben 10 Leute, deren Beiträge ich dort als erstes und meist einziges lesen soll – und das bei über 500 „Freunden“. Leider sind es nur selten diejenigen, von denen ich auch etwas lesen möchte. Es ist, als wären alle ausgeflogen, bis auf die paar Leute, die etwas beruflich mit Social Media machen, oder die gehört haben, dass Social die Zukunft ist und sie dort Tag und Nacht präsent sein müssen. Mit Livevideos, Bilder ihrer glücklichen Familie beim Sonntagsspaziergang, neuerdings mit Grußkarten-ähnlichen Bildern, auf denen der eigentliche Text steht: „Jemand heute Abend in München Lust auf ein Bier?“ liest man dann da in markanter Schrift auf blauem Untergrund. Darunter ein Kommentar: „Voll gemein. Ich will diese Karten auch haben!“

Jeden Morgen begrüßt mich Facebook auf dem Smartphone mit Benachrichtigungen wie: Maria hat morgen Geburtstag, Markus interessiert sich für eine Veranstaltung nächste Woche in deiner Nachbarstadt, Markus-Maria schreibt in einer Gruppe, der du nur noch aus Pflichtgefühl folgst, dass er sein durchgesessenes Sofa verschenkt. Natürlich nicht wortwörtlich, aber in diesem Sinne. Sprich: Nichts, was ich wissen will, aber trotzdem lesen muss. Weil ich die Facebook-App nicht ganz löschen mag und mich auch nicht zum zwanzigsten Mal durch die Einstellungen kämpfen will für Benachrichtigungen, die ich nie bestellt habe, aber trotzdem bekomme, weil Facebook sie nachträglich eingefügt hat.

Den umgekehrten Weg gibt es auch: „Du hast noch gar nichts zu dem Bild gesagt, das ich vorgestern gepostet habe“, beschwerte sich ein guter Freund kürzlich. „Hast du das nicht gesehen?“. „Öh, nein!“, entschuldigte ich mich. „Habe ich tatsächlich nicht.“ Facebook hatte mir das schlicht nicht angezeigt. Dabei wäre das mal ein Beitrag gewesen, den ich gerne gesehen hätte. Verschwunden, offenbar, im überoptimierten Algorithmus.

Freunde kriegen meine Beiträge nicht zu sehen. Was soll das?

Mir selbst geht es auch nicht mehr viel anders mit eigenen Beiträgen. Es ist selten geworden, dass ich auf Facebook überhaupt noch etwas poste. Aber wenn, dann eigentlich nur über etwas, das mir am Herzen liegt. Meine letzten beiden Beiträge haben noch 20 Leute und dann nur noch einer überhaupt mit einem „Like“ bedacht. Den Rest hat es nicht interessiert oder – das ist noch eher meine Vermutung – er hat es gar nicht mitbekommen. Postet man zu lange nichts, erhalten einige Freunde keine Benachrichtigung mehr über neue Beiträge, die man veröffentlicht. Hat mir ein Social-Media-Experte einmal erklärt. Ich müsste die dann erst neu aktivieren. Indem ich sie anschreibe oder ihre Profile aufrufe und ihre Beiträge dort like. Jeden einzelnen.

Ich habe noch weit mehr Gründe. Wie, dass ich es nicht mag, wenn Facebook meinen Browser-Verlauf für sein Retargeting auf Schritt und Tritt überwacht. Ich logge mich mittlerweile aus dem Netzwerk aus, nachdem ich mit einer Session fertig bin, in der Hoffnung dass ich dann nicht mehr getrackt werde. Mit dem Ergebnis, dass ich beim nächsten Besuch Angebote der Kamera erhalte, die ich mir ganz sicher nach dem Logout angeschaut habe. Erhalte ich eine Facebook-Benachrichtigung per Mail und klicke darauf, gelange ich ohne Login wieder auf Facebook. Praktisch, ja – aber auch irgendwie gruselig.

Werbung gibt es auf Facebook zwar mittlerweile en masse. Aber das wäre kein Problem, würde man wenigstens dazwischen das lesen, was wirklich interessiert.

Ich mache mir nichts vor: Ganz ohne Facebook geht es immer noch nicht. Mit manchen Freunden unterhalte ich mich über den Messenger, mit anderen stimme mich über gemeinsame Veranstaltungen dort ab, ist jemand mal im Urlaub und veröffentlicht schöne Fotos, like ich die auch ganz gerne. Gaaaanz selten noch beteilige ich mich an politischen oder gesellschaftlichen Diskussionen – und bereue es meist gleich darauf, weil ich dadurch schnell in stundenlange Auseinandersetzungen gezogen werde, in denen ich nichts gewinnen kann. Facebook ist nicht mehr so, wie ich mir Social Media einmal vorgestellt habe.

Wir müssen Social Media neu denken

Ich habe das Gefühl, dass es vielen so geht wie mir, aber keiner sich traut, das offen zu sagen. Man will ja nicht von gestern sein: Social Media ist mehr als ein Trend, es ist eine Art von Kommunikation, die wichtig ist und die bleiben wird und soll. Man will sich austauschen, man will tolle Dinge mit anderen teilen, man will mal etwas broadcasten. Aber, irgendwie, nicht so.

Twitter ist auch nicht die Lösung. Mir scheint ohnehin der Gedanke zunehmend verrückt, dass wir diesen eigentlich begrüßenswerten Social-Trend maßgeblich zwei, drei Unternehmen überlassen. Wir wollen kommunizieren, egal ob untereinander oder mit Unternehmen. Aber warum muss das zwingend über ein Facebook oder Twitter geschehen? Kann das nicht auch völlig losgelöst von Unternehmen sein?

Der sehr kurzlebige Trend Mastodon war in meinen Augen nicht für die Masse geeignet. Aber die Macher hatten ein Argument: Wir könnten Social Media auch in die eigene Hand nehmen. Markus könnte seinen eigenen Kreis definieren und selbst hosten, Maria ebenfalls. Kommunizieren nur noch mit wem, mit wie vielen und wie oft man will. All das hat Facebook irgendwie aus den Augen verloren.

Ist es also Zeit, dem und den großen Social Networks den Rücken zu kehren? Im Prinzip ja. Aber echte Alternativen sehe ich derzeit nicht. Vielleicht müssen wir erst anfangen mit dem Wunsch, Social Media neu zu erleben. Abseits eines Facebooks, eines Twitters oder eines Instagrams. Social Media muss nicht in den Händen einiger Großkonzerne liegen. Wir sollten das Thema selbst in die Hand nehmen.

Die mobile Version verlassen