Erst gestern habe ich meine jährliche Spende an Wikimedia gerichtet. Und hinterher die Nachricht gelesen, dass Elon Musks Wikipedia-Alternative Grokipedia an den Start gegangen sei.
Und das ging jetzt erstaunlich schnell. Angekündigt hatte Musk die eigene Enzyklopädie erst Ende September. Und man kann davon ausgehen, dass er seinen Entwicklern da – wie so oft – nicht viel Vorlaufzeit gegeben hat. Und nun, einen Monat später, ist die Grokipedia bereits am Start.
Meine erste Suche darin gilt denn auch direkt Elon Musk selbst. Der Beitrag über ihn ist erstaunlich lang, detailliert und ausbalanciert, bei Kritik an seiner Person aber weich. Kritik am US-Vizepräsidenten J.D. Vance durch die „New York Times“ und MSNBC wird dort als „linke Meinung“ deklariert.
Die Tagesschau zitiert den Grokipedia-Eintrag über den „Sturm aufs Kapitol“ im Januar 2021, in dem das hinreichend als gewaltsam dokumentierte Eindringen von Trump-Anhängern ins Parlamentsgebäude in Washington D.C. als mehr oder weniger friedlicher Protest dargestellt wird.
Dennoch: Nach nur wenigen Wochen überhaupt in der Produktion hat die Version 0.1 der Grokipedia zum Start 855.000 englischsprachige Artikel vorzuweisen. Klingt nach wenig, aber bei der englischsprachigen Wikipedia sind es 7 Millionen – nach fast 25 Jahren.
Wie das Grok-Team von Musks xAI so schnell eine ganze Enzyklopädie aufbauen konnte? Natürlich mit KI. Musks ChatGPT-Alternative Grok kam hier zum Einsatz. Sie wurde mit Beiträgen aus dem Netz „trainiert“. Und jeder, der schon einmal mit generativer KI herumgespielt hat, weiß, dass die Technik längst in der Lage ist, ganze Lexikon-Artikel zu einem beliebigen Thema zu erzeugen. Dass die oft voller, nicht immer direkt augenscheinlicher Fehler sind, spielt da eine untergeordnete Rolle.
Grokipedia „adaptiert“ Inhalte der Wikipedia
Für die Inhalte fischen Grok und Co. ironischerweise sogar die Wikipedia ab. Also eben das Portal, das Musk „zu links“ ist und für den er eine Alternative aufbauen wollte. Die Kollegen von The Verge fanden denn auch eine erstaunliche dreiste Abkupferung in den Grokipedia-Einträgen etwa über das Apple MacBook Air, unter dem vermerkt ist, dass der Inhalt von der Wikipedia „adaptiert“ worden sei:

Die Frage ist aber brisanter denn je: Wenn sich in wenigen Wochen mit Hilfe von KI eine ganze Enzyklopädie aufbauen lässt, was wird dann aus bisherigen Enzyklopädien? Was wird aus der Wikipedia? Und könnte sie ein ähnliches Schicksal ereilen wie das der etablierten Nachschlagewerke, deren Verlage vor 20 Jahren eben an dieser Wikipedia zu Grunde gegangen sind? An der leichter zugänglichen Oberfläche, dem kostenlosen Zugang, der fortschrittlicheren Technik.
Ich spende jährlich für Wikipedia, weil ich es als eine der letzten neutralen, unkommerziellen und nur schwer korrumpierbaren Bastionen für freies Wissen halte. Aber nun droht der Wikipedia größeres Ungemach denn je. Eben durch die fortschrittlichere Technik, die ihr einst zu Gute kam.
Ich gönne es Musk nicht, die Wikipedia zu beerben. Und die erste Version der Grokipedia ist amateurhaft, unausgewogen und dazu noch instabil: oft kommt gar nicht erst eine Verbindung zustande.
Ich fürchte nur, es wird nicht bei der Grokipedia 0.1 bleiben. Die Technik wird verbessert werden und dann werden wir schon bald eine Grokipedia 1.0 mit Millionen von besser strukturierten Beiträgen haben. Weitere Alternativen werden kommen, die mit wenig redaktionellem Aufwand erstellt werden können.
Denn der Aufwand, eine eigene Enzyklopädie zu bauen, ist nach heutigem Stand der Technik erstaunlich gering. Google und ChatGPT haben die Kapazitäten längst und könnten eigene Enzyklopädien ins Rennen schicken. Und wenn diese mit Beiträgen aus der Wikipedia „trainiert“ werden, dann wird sie im ersten Moment kaum jemand daran hindern.
Wikipedia-Chef Jimmy Wales gibt sich in einem aktuellen Interview mit der New York Times siegesgewiss. Vor Grokipedia habe er keine Angst, und die Wikipedia werde auch in hundert Jahren noch existieren.
Ich bin mir da nicht ganz so sicher.
Jetzt kommentieren!